Die Rückkehr der Arbeiter*innenbewegung
in Anlehnung an einen Artikel von Anne Engelhardt
Kampfbereitschaft bei der Post, große Streiks im öffentlichen Dienst, ein Mega-Streik legt das Land lahm – der Streik ist zurück auf der politischen Agenda. Und er wirkt: 60.000 neue Mitglieder verzeichnet die Gewerkschaft ver.di alleine dieses Jahr. Das zeigt: Wer kämpft, kann gewinnen … Auch wenn es für Abschlüsse über der Inflationsrate bisher nicht gereicht hat.
Seit 2015 hat es in Deutschland keine größeren Streikbewegungen gegeben. Seit Jahren blicken Sozialist*innen und linke Gewerkschafter*innen mit Neid nach Frankreich oder Belgien und wünschen sich ähnliche Streikbewegungen. Seit Anfang 2023 scheint dieser Wunsch in Erfüllung zu gehen: Die Inflation von durchschnittlich mehr als 8 %, ein hausgemachter Arbeitskräftemangel in einigen Branchen, eine wachsende Wut über hohe Gewinne, vor allem in den privatisierten Transport- und Logistikbereichen wie Deutsche Post und Deutsche Bahn, sowie ein Pflegenotstand in Krankenhäusern und Kindergärten haben die Beschäftigten auf die Straße und auf die Streikposten gebracht.
Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst und bei der Post
Die Streikbewegung fällt mit mehreren größeren Verhandlungsrunden in verschiedenen Sektoren zusammen. Die größte ist jene der Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Kommunen und der Landesbeschäftigten. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di forderte 10,5 % mehr Lohn und mindestens 500 Euro mehr pro Monat, also bis zu 20 % für die am schlechtesten bezahlten Gruppen im öffentlichen Dienst. Dazu gehören Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, aber auch verschiedenste Beschäftigte im öffentlichen Dienst: Flughafen- und Hafenbeschäftigte, Tunnelsicherheitsdienste und Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr bei Bus- und Straßenbahnen.
Abgeschlossen ist inzwischen die mit Spannung verfolgte Tarifrunde für die rund 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post. Hier hatte die Tarifkommission im November eine Lohnerhöhung von 15 Prozent gefordert, dazu eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen und der Entgelte der Studierenden um 200 Euro monatlich, alles bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Nachdem zwei Verhandlungsrunden im Januar keine Annäherung brachten, rief ver.di zu Warnstreiks auf. Bis zur dritten Verhandlungsrunde im Februar beteiligten sich etwa 100.000 Beschäftigte an den Aktionen. Darauf legte die Post ein erstes Angebot vor: eine steuerfreie Inflationsausgleichs-Sonderzahlung von 150 Euro für das laufende und 100 Euro für das nächste Jahr, eine Monatslohnerhöhung um 150 Euro zum 1. Januar 2024 sowie eine weitere um 190 Euro zum 1. Dezember 2024, bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Verdi lehnte das Angebot ab und erklärte die Verhandlungen für gescheitert. Bei der anschließend eingeleiteten Urabstimmung über einen unbefristeten Erzwingungsstreik stimmten 85,9 Prozent der Mitglieder für Arbeitskampfmaßnahmen.
Kurz darauf einigten sich Verdi und Post am 10. und 11. März in der 4. Verhandlungsrunde auf ein Ergebnis. Für den Zeitraum Januar bis April gibt es eine Einmalzahlung von 1.020 Euro. Von Mai 2023 bis März 2024 zahlt die Post eine weitere Inflationsausgleichszahlung von 180 Euro monatlich. Eine Tabellenerhöhung gibt es erst zum April 2024 und zwar um den Festbetrag von 340 Euro im Monat. Neu ist auch, dass Beschäftigte bereits nach 30 Tagen Tätigkeit einen Anspruch auf Weihnachtsgeld bekommen. Der Tarifvertrag läuft über 24 Monate bis zum 31. Dezember 2024.
Kritisch gesehen wurde vielfach, dass Teilzeitbeschäftigte die Inflationsausgleichprämien nur anteilig entsprechend ihrer vertraglichen Regelarbeitszeit erhalten sollen. Hier und da mobilisierten linke gewerkschaftliche Strukturen für eine Ablehnung des Kompromisses und Fortsetzung der Auseinandersetzung, ohne dabei groß Gelände zu gewinnen. In einer zweiten Urabstimmung votierten 61,7 Prozent für die Annahme des Ergebnisses. Mit der Zustimmung der Tarifkommission am 31. März trat der Tarifvertrag in Kraft.
Zwei Dinge fallen bei der Post-Tarifrunde ins Auge: Innovative und partizipative Methoden wie sie verdi seit geraumer Zeit im Gesundheitswesen und inzwischen auch in der laufenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst anwendet – etwa die oben erwähnten Stärketests und Arbeitsstreiks – fanden bei der Post nicht statt. Dazu passt auch, dass es zum Ergebnis keine Befragung der Mitglieder gab, sondern sofort eine zweite Urabstimmung. Andererseits war die Bereitschaft der Beschäftigten, sich auf einen womöglich langen Erzwingungsstreik mit ungewissem Ausgang einzulassen, offensichtlich nicht so ausgeprägt, wie sich das manche linke Gruppen bei ver.di wünschen. Verwunderlich ist das aber nicht: Vielen Paketzusteller*innen ist der mehrwöchige Post-Streik von 2015 noch in Erinnerung, der nicht wenige der Beteiligten in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Niedriglohnsektor bedeutet eben auch: niedriges Streikgeld. Wer ohnehin mit seinem Haushaltseinkommen am Limit wirtschaftet, wird sich gut überlegen, ob sich ein längerer Streik lohnt.
Drittens verhandelt die Eisenbahngewerkschaft EVG derzeit mit der Deutschen Bahn über eine Lohnerhöhung von 12% bzw. mindestens 650 Euro mehr pro Monat, während das Management der Deutschen Bahn eine Gehaltserhöhung von 14% für ihre eigenen Vorstandsvorsitzenden beschlossen hat. Die Gewerkschaft EVG hatte erst am 21.April zu einem Warnstreik aufgerufen. Daran beteiligten sich 25.000 Kolleg*innen in 50 Unternehmen.
Politische Streikbewegung
Bereits am 3. März traten die Klimabewegung und die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs (Bus und Straßenbahn) in einen gemeinsamen Klimastreik. Am 8. März rief Verdi parallel zum feministischen internationalen Frauenstreiktag die Krankenpfleger*innen und die Beschäftigten der Kindergärten zum Streik auf. Politische Streiks sind in Deutschland offiziell nicht erlaubt, aber es wurde versucht, die Arbeiter*innenbewegung und die sozialen Bewegungen zu verbinden. Am 22. März wurde ein weiterer großer Streiktag im öffentlichen Dienst organisiert, der bisher größte und politischste Streiktag, an dem Tausende von Beschäftigten nicht nur streikten, sondern sich an Demonstrationen und Streikposten in mehreren hundert Städten beteiligten.
“Megastreik” als Endpunkt einer Bewegung?
Am Montag dem 27. März organisierten ver.di und EVG zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen koordinierten Streik. Wie ver.di in ihrer Erklärung vom 23. März schrieb: “Das hat es in dieser Form noch nie gegeben:“ und sendeten damit ein deutliches Signal: ‘Gemeinsam können wir mehr erreichen!’”
Und tatsächlich: Der Verkehr war lahmgelegt Die Verdi-Führung hoffte bei den Verhandlungen auf einen akzeptablen Abschluss, sodass die Beschäftigten bei einer Urabstimmung nicht für einen (für Verdi teuren) unbefristeten Streik stimmen. Deshalb hat sie viel Energie in den “Megastreik” investiert, um ihn zum Endpunkt einer beginnenden Streikbewegung zu machen. Trotzdem wurde z.B. an vielen Flughäfen weiter gestreikt, Aufgrund des Streikdrucks erzielte Verdi gleich am darauffolgenden Samstag ein Tarifergebnis.
Über die Annahme müssen die Gewerkschaftsmitglieder aber noch entscheiden. Dieses sieht unter anderem steuer- und abgabenfreie Sonderzahlungen von insgesamt 3000 Euro in mehreren Stufen vor. 1240 Euro davon sollen bereits in diesem Juni fließen, weitere 220 Euro dann jeweils in den Monaten von Juli bis Februar 2024. Ab März 2024 soll es dann als Lohnplus einen Sockelbetrag von 200 Euro brutto sowie anschließend 5,5 Prozent mehr geben.
Unterm Strich bleibt damit jedoch ein Reallohnverlust. Gegen die lange Laufzeit und vor allem die späte tabellenwirksame Erhöhung regt sich bei Verdi-Mitgliedern Widerstand: „Ich will keine Einmalzahlung. Ich will jeden Monat eine Wertschätzung“ heißt es. Beschäftigte aus dem TÜV Nord, der GRS und dem TÜV Hessen haben in einer Befragung schon mal eindeutig entschieden: Ablehnung der Einmalzahlung, stattdessen soll eine tabellenwirksame Erhöhung her. Am 15. Mai 2023 entscheidet die Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst final.
Worum geht es noch?
Bei den vielen Aktionen und Streiks ging es nicht nur um die Löhne. Es geht um Unterbesetzung, Burn-outs und Arbeitsbedingungen, die Kinder in der Kinderbetreuung, Patient*innen in Krankenhäusern und Fahrgäste in Zügen und Bussen gefährden. Es ist eine Bewegung von zentraler Bedeutung, die bereits jetzt schon das Potenzial gezeigt hat, einen großen Teil der Arbeiter*innenklasse in Deutschland zu repolitisieren. In einigen Sektoren wie Flughäfen, Häfen und einigen Eisenbahnen hatte es seit mehr als 30 Jahren keine Streiks mehr gegeben.
Es gibt eine enorme Kampfbereitschaft. Viele Kolleg*innen sagen, dass die geforderten 500 Euro Festgehalt für zwölf Monate schon ein Minimum sind und dass man nicht darunter gehen darf. Auch eine Kompensation in Form einer steuer- und beitragsfreien Einmalzahlung ist inakzeptabel. Eine solche Einmalzahlung muss zusätzlich zu einer tabellenwirksamen Erhöhung gezahlt werden. Aber eine fixe Lohnerhöhung von 500 Euro muss jetzt kommen.
Rund 30.000 Eisenbahner*innen und mehr als 120.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes an 800 Standorten beteiligten sich am Megastreik.
Die Klimabewegung, wie z.B. Fridays for Future, unterstützte offen den Megastreik im Gegenzug zur Unterstützung des Klimastreiks Anfang März durch die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob die Streiks weiter eskalieren, weil die Beschäftigten niedrige Angebote ablehnen, oder ob es der Gewerkschaftsführung gelingt, die Wut noch einmal zu deckeln. Selbst dann ist damit zu rechnen, dass weitere Verhandlungsrunden, die noch in diesem Jahr zu erwarten sind, die Stimmung weiter eskalieren lassen könnten. Auch die fieberhaften Äußerungen der Unternehmensverbände zur weiteren “Regulierung des Streikrechts” deuten wohl in diese Richtung.
Streikende unterstützen!
Streikende brauchen Solidarität und Unterstützung, besonders dann, wenn es mal länger dauert. Denn die Arbeit niederzulegen ist anstrengend, braucht Ressourcen und vieles mehr.
1. Streikposten besuchen
Wenn ein Streik in der Nähe stattfindet, ist die einfachste Möglichkeit, ihn zu unterstützen, die Streikenden zu besuchen. Dafür bieten sich Streikposten an. Rufen große Gewerkschaften zu Arbeitsniederlegungen auf, wie zuletzt etwa Verdi und die EVG, kann man leicht in Erfahrung bringen, wo die Streikposten aufgebaut werden, oft gibt es auch begleitende Kundgebungen oder Demonstrationen.
2. Streiks im eigenen Umfeld verteidigen
Wir rufen dazu auf, Streikende und deren Arbeitskämpfe in unserem Alltag zu verteidigen. Die öffentliche Stimmung wird dann erfahrungsgemäß durch Medienschelte beeinflusst. Dem treten wir überall entgegen. – ob nun auf Arbeit, in Schule oder Uni, Familie oder im Bekanntenkreis. Gute Argumente sind etwa, dass Streiks nun einmal stören müssen, da sie sonst gar nichts bringen würden oder auch, dass jede*r Lohnabhängige in die Lage kommen könnte, streiken zu müssen, und man sich nicht gegeneinander ausspielen lassen sollte.
3. Für den öffentlichen Dienst: Streikhelfer*in werden
In der aktuellen Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst kann sich jedes Verdi-Mitglied (egal aus welchem Fachbereich) als Streikhelfer*in registrieren lassen, um dann bei Bedarf mitzuhelfen, falls es zur Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik kommt. Mehr unter: zusammen-geht-mehr.verdi.de
4. Langwierige Auseinandersetzungen begleiten
In langfristigen Streiks wie etwa bei Amazon rufen wir dazu auf, Solistrukturen zu unterstützen. da diese feste, zuverlässige Verbindungen zu den Kolleg*innen im Betrieb aufgebaut haben und diese unterstützen mit dem, was sie gerade brauchen.
5. »Kampagne für ein umfassendes Streikrecht« supporten
Wir rufen dazu auf, die im vergangenen Jahr gegründete Kampagne für ein umfassendes Streikrecht zur Kenntnis zu nehmen. Das Streikrecht muss gegen Angriffe verteidigt werden. Mehr Infos unter: rechtaufstreik.noblogs.org
6. Selber am Arbeitsplatz organisieren
Die beste Unterstützung für jeden Streik ist auf lange Sicht gesehen natürlich eine starke Arbeiter*innenbewegung. Daher: Selbst am Arbeitsplatz organisieren – und wer weiß, vielleicht streikst auch du bald.