Gedenken an Hanau – Das zehnte Opfer

Am 19. Februar 2020 kam es in Hanau zu einem rechtsextremistisch motivierten Attentat. Der Täter, Tobias Rathjen, erschoss neun migrantisch gelesene Menschen, in einer Shisha-Bar aber auch auf offener Straße.

Jährlich finden in vielen Städten am 19.2. Veranstaltungen statt, um Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu zu gedenken.

Was jedoch selten und oft nur beiläufig erwähnt wird, ist, dass der Rechtsextremist nach den neun rassistischen Morden auch noch seine Mutter im elterlichen Reihenhaus erschoss. Welche Motive er bei dieser Tat genau verfolgte, ist nicht bekannt. Trotzdem gibt es einige gute Gründe zu der Annahme, dass der Täter auch hier ideologisch handelte.

Die 72-jährige Mutter, Gabriele Rathjen, war ein Pflegefall und auf die Hilfe ihres Mannes und Sohnes angewiesen. Menschen mit Behinderungen sah R. als eine Belastung für die Gesellschaft und damit, ganz nach Nazi-Ideologie, als minderwertig an. Den Hass-Pamphleten, die er lange vor seiner Tat im Netz veröffentlicht hatte, lässt sich entnehmen, dass der Täter ganz klar zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben unterschied. Menschen mit Behinderung gehören für den Rechtsextremisten der zweiten Gruppe an. Vor diesem Hintergrund kann man Ableimsus und Sozialdarwinismus (beides zentrale Punkte der NS-Ideologie) als Motive für den Mord an Gabriele R. betrachten.

Bei der Tat handelt es sich zusätzlich um einen Femizid. Femizide sind Morde an Frauen aufgrund ihres Frauseins. Dass ein Rechtsextremist ein extremst misogynes Frauenbild hat, dürfte niemanden überraschen. Außerdem hat auch das „Thema Frauen“ ganze fünf Seiten seiner hasserfüllten Internet-Einträge umfasst. Den Mord, den R. einige Stunden nach Ankunft im Haus seiner Eltern begann, als Zufall oder Familiendrama abzutun, verharmlost frauenfeindliche Gewalt. Der Täter tötete seine Mutter Obduktionsberichten zufolge mit zwei Kopfschüssen. Dem Vater, der ebenfalls zuhause war, passierte nichts.

Es ist ganz klar, dass die Forderung, neben den neun Opfern auch der Mutter des Täters zu gedenken, zunächst befremdlich und unangebracht wirken kann, da es ja sein könnte, dass sie die rassistische Haltung ihres Sohnes geteilt oder sogar, wie der Vater, zu dessen rechter Entwicklung beigetragen habe. 

Jedoch gab es nie auch nur einen Hinweis auf eine rechte Gesinnung der ehemaligen Erzieherin, so Bekannte der Familie. Und solange dies so ist, sollte sie nicht länger auf ihre Rolle als „eventuell auch rechte Mutter eines Neonazis“ reduziert werden. Man weiß genauso wenig über die politischen Standpunkte der anderen Opfer und diese sind auch total egal, da absolut gar nichts rechte Morde legitimiert.

Eine Mutter pauschal für die Entwicklung ihres Kindes verantwortlich zu machen, beziehungsweise eine Frau für die Taten eines Mannes, ist misogyn.

Nimmt es den neun Menschen, die aus rassistischen Gründen erschossen wurden, etwas weg, einer weiteren, von einem Rechtsextremisten getöteten Person zu gedenken? Nein, sagen auch Angehörige der Opfer, solange man klar zwischen den jeweiligen Hintergründen der Morde differenziere.             

Gabriele Rathjen war nicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Ihr Tod war weder ein unglücklicher Zufall noch ein innerfamiliäres Drama, sondern ein ableistischer und frauenfeindlicher und damit rechtsextremer Mord.

Sie nicht zu vergessen ist unsere Aufgabe.